Freizeit

Freizeit

Freizeit – Arbeitszeit

Wofür lebt der Mensch?

Die Arbeit nimmt in der heutigen Gesellschaft immer noch eine zentrale Stelle ein – schon wegen des nötigen Einkommens. Die Freizeit hingegen nimm an Bedeutung zu. Dies zeigt sich vor allem im Aufkommen verschiedener Arbeitszeitmodelle.

Von Franz Kilchherr


Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass früher Arbeit meistens nur bei Tageslicht verrichtet werden konnte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Zeitlauf durch Rhythmen und Zyklen der Natur bestimmt; der Wechsel von Tag und Nacht, die Jahreszeiten, ja sogar das Wetter begrenzten die Arbeitszeit. Nur die Kirchturmuhren schlugen die allgemein gültige Zeit – und diese galt nur, so weit man die Glocken hören konnte.

Diktat der Uhren
Die Industriealisierung setzte dieser relativ flexiblen Zeiteinteilung ein Ende. Der Siegeszug des Zeitmessers begann. Nun konnte man die Oranisation der Arbeitszeit dazu benutzen, die Produktion zu maximieren. Die Bewirtschaftung der Zeit wurde immer wichtiger. Nicht nur am Kirchturm konnte man von nun an die Zeit ablesen, Uhren «drohten» sogar von den Fabrikmauern, unbestechlich überwachten Stechuhren die Arbeitszeit. Der «persönliche» Zeitmesser legte den Arbeiterinnen und Arbeitern immer engereFesseln um: Die Taschen- und Armbanduhren wurden zum unabdingbaren Attribut. Und was früher von der Natur bestimmt wurde, befiehlt heute die Agenda. Zeit ist heute einteilbar, messbar, rationalisierbar, sie ist ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen RessolU’ce geworden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Vorstellung eines «Normalarbeitstages» und einer «Normalarbeitswoche» mit einer fixen Anzahl Stunden. Man teilte den Tag immer mehr in Arbeitszeit und Freizeit auf. Freizeit diente oft nur noch zur Erholung. Gleichzeitig wurde die Arbeitszeit deutlich länger; sie wurde in Stunden pro Tag wie auch in Tagen pro Jahr berechnet.

Kampf um Freiheit
Die Anzahl der Arbeitsstunden wird nun zum Gegenstand von Diskussionen und von Interessenskonflikten. Gewerkschaften schreiben neben dem Postulat der Lohner- höhung die Verkürzung der Arbeitszeit auf ihr Banner. Verständlich, wenn man bedenkt, dass um 1900 die mittlere wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz 61 Stunden betrug und erst nach dem Generalstreik von 1918 die 48-Stunden-Woche mit dem Acht-Stunden-Tag eingefülut wurde: Die Diskussion um die Arbeitszeit geht auch heute weiter: WlU’de 1996 allgemein die 42-Stunden-Woche eingeführt, so denkt man jetzt bereits über eine weitere Reduktion auf 36 Stunden nach.
Eine Verminderung der Arbeitszeit verschiedene Untersuchungen belegen dies führt nicht unbedingt zu einergeringeren Arbeitsproduktivität. Häufig erhöhen kürzere Arbeitszeiten sogar die Qualität und Produktivität der Arbeit. Die Kehrseite dieser Medaille zeigt sich postwendend: In Kenntnis dieser Tatsache erwarten viele Arbeitgeber mehr Leistunge in weniger Zeit. Investitionen müssen eben rentieren. Doch bei starker Intensivierung des Drucks wird nicht nur die Produktivität gesteigert, auch der Stress mit all seinen Neben. und Auswirkungen nimmt zu. Nicht umsonst geben heute 80 Prozent der erwerbstätigen Schweizer gemäss seco an, regelmässig gestresst zu sein! Nach einer neuen Studie (KPMG Frankfurt) arbeiten Schweizer Führungskräfte durchschnittlich 58 Stunden pro Woche und leisten sich nur wenig mehr als vier Wochen Ferien.

Neue Arbeitszeitmodelle gefragt
Der intensivierte éeistungsdruck verändert die Arbeitszeitlandschaft – nicht mehr der normierte «Normalarbeitstag» oder die «Normalarbeitswoche» entspricht den heutigen Arbeitsnaforderungen. Neue Arbeitszeitmodelle – etwas Jahresarbeitszeit, Teilzeit, flexible Arbeitszeiten – kommen der Veränderung entgegen. Denn von der heutigen postindustriellen Gesellschaft wird auf breiter Front Flexibilisierung verlangt: flexible Aufgaben, flexible Arbeiter, flexible Arbeitsplätze, flexible Produktion, wohin man blickt.
Unsere Arbeitswelt kennt keine starren Leitplanken mehr. Die daraus entstehende Unsicherheit löst oft Angst – Existenzangst – aus, eröffnet jedoch auch neue Chancen. Chancen, die sich vor allem die Jüngeren nicht entgehen lassen. Für sie heisst die Devise nicht mehr: «Wir leben, um zu arbeiten», sondern ganz klar: «WIr arbeiten, um zu leben.»

Die finanzielle Entschädigung für die geleistete Arbeit gibt heute oft nicht mehr den Ausschlag bei der Berufsausübung: Gute Weiterbildungsmöglichkeiten, eine gute Arbeitsatmosphäre, flexible Arbeitszeiten und eine sinnvolle Arbeit spielen eine ebenso grosse Rolle.

Freizeit immer wichtiger
Lebensqualität nimmt in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr proportional zu Lohnerhöhungen zu: Nach einer Umfrage des Ludwig-Boltzmann-lnstituts für ange- wandte Freizeitwissenschaft in Wien gehören zu einem «guten Lebell» drei Mal mehr freizeitbezogene Werte als solche aus der Berufswelt (siehe Kasten).

Was gehört Ihrer Meinung nach zu einem guten Leben?

Freizeitbezogene Werte (56% – 588 Pers.):
gute Freunde, glückliche Ehe, Liebe, Familienleben, Kinder, einges Haus, erfülltes Sexualleben, Interesse, Hobbys, Sommer-/Winterurlaub, viel Freizeit, schöne Sachen zum Anziehen, grosser Bekanntenkreis, Haustier

Neutrale Werte (30% – 311 Pers.):
Gesundheit, Freiheit, Auto, gutes Essen, schöne Wohnung, Glauben und Relifion, Eigentumswohnung

Berufsbezogene Werte (14% – 148 Pers.):
Erfolg im Beruf, viel Geld, abwechslungsreicher und interessanter Beruf, Matura für Kinder

Quelle: Ludwig Boltzmann-Institut für angewandte Freizeitwissenschaft


Die eigentliche «Revolution» zwischen der industriellen und der postindustriellen Zeit vollzieht sich allem Anschein nach in der Gewichtung von Freizeit und Arbeitszeit und in der qualitativen Veränderung der Freizeit. Freizeit wird zur Erlebniszeit, zur «Zeit, die auf ein gemeinsames Erleben und auf die Entwicklung eines eigenen Lebensstils ausgerichtet ist», sagt der Arbeitspsychologe Schulze. Dazu passt auch die Aussage einer von der AM-Agenda befragten Person: «Ich kann nicht mehr zwischen Arbeits- und Freizeit unterscheiden. Denn das, was ich an meinem Arbeitsplatz mache, ist mein Hobby, und was ich in der Freizeit mache, verwerte ich bei meiner Arbeit.»

Zwar hat die Arbeit immer noch einen zentralen Stellenwert in der heutigen Gesellschaft -sie sichert das Einkommen. Doch immer mehr erhalten die anderen sozialen Felder, zum Beispiel die Familie, das Vereinsleben, die Politik, die Freizeit, ein grösseres Gewicht. Die Folge: Arbeitszeitmodelle können nicht mehr nur vom Betrieb aus diktiert werden. Ein Unternehmen, das zufriedene und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben will, muss sich auch nach deren Wünschen richten. Die Aushandlung von individuellen Arbeitszeitmodellenbringt so beiden Seiten ein Optimum, den Unternehmen die gewünschte Produktivität, den Angestellten die grösstmögliche Optimierung der Arbeitszeit und Freizeit.

Freizeit – Arbeitszeit

Für die meisten Menschen ist die Arbeitszeit die wichtigste Zeit in ihrem Leben. Sie ist die Grundlage für die Existenzerhaltung. Doch die Zeit, die man für die Arbeit aufbringt, wird von den meisten Menschen überschätzt. Sie meinen, dass die Arbeitszeit mindestens dreissig Prozent der Lebenszeit ausmacht. Dabei arbeiten wir nur etwa fünfzehn Prozent in unserem Leben – Tendenz sinkend, da wir ja länger leben …
Freizeit im eigentlichen Sinne wurde je nach eigenem Standpunkt immer wieder anders definiert:

Freizeit sei diejenige Zeit,
• über die ohne Sachzwang individuell disponiert und nach persönlichen Wünschen verfügt werden kann (Schelsky, 1957)
• in der man frei ist von offensichtlichen und formellen Verpflichtungen, die durch berufliche Arbeit und andere obligatorische Beschäftigungen gegeben sind (Lundberg, Komarovsky, McInery, 1934),
• die von der Arbeitsverpflichtung frei sei und nicht der psychophysischen Regeneration vorbehalten bleibt (Külp und Müller, 1973).

Das schweizerische Arbeitsgesetz
nimmt sich indirekt der Freizeit an, indem es beschreibt, was alles zur Arbeitszeit gehört:
• Als Arbeitszeit gilt die Zeit, während derer sich der Arbeitnehmer zur Verfügung des Arbeitgebers zu halten hat; der Weg zu und von der Arbeit gilt nicht als Arbeitszeit.
• Bereitschaftsdienst, bei dem der Arbeitnehmer ausserhalb des Betriebes auf Abruf zur Verfügung des Arbeitgebers steht, ist so weit an die Arbeitszeit anzurechnen, als der Arbeitnehmer tatsächlich zur Arbeit herangezogen wird.

Daraus folgert Eberhard Ulich, dass Pausen-, Wege- und Bereitschaftszeiten nicht frei disponierbar und allenfalls als arbeitsgebundene Freizeit zu bezeichnen sind.


Freizeit ist mehr als das halbe Leben

Lebenszeit = 660’000 Std. (75 Jahre)

53%
Freizeit
350’000 Std.

33%
Schlaf
220’000 Std.

14%
Beruf
90’000

Quelle: Ludwig Boltzmann-Institut für angewandte Freizeitwissenschaft.