Kolumne
Minderwertig?
Als frischgebackener Arbeitsloser werde ich von meinem zuständigen RAV zu einer dreistündigen Informationsveranstaltung eingeladen. Wie es auf der «Verfügung betreffend Informationsveranstaltung» heisst, soll «jeder/jede Stellensuchende so schnell wie möglich über sein/ihre Bezugsberechtigung, die arbeitsmarktlichen Massnahmen und über alle anderen Sachverhalte, die sich aus der Arbeitslosigkeit ergeben, informiert werden». Dem Hinweis «Besonderes» schenke ich zunächst keine grosse Aufmerksamkeit: «Sollten Sie», steht dort zu lesen, «dieser Anweisung keine Folgen leisten und der Informationsveranstaltung unentschuldigt fernbleiben, müssen wir Sie gestützt auf Art. 30 Abs. 11it d und Art 30a Abs.1 und 2 AVIG für die Dauer von fünf Tagen in der Anspruchsberechtigung einstellen.»
Mit der Zeit jedoch stösst mir diese Anweisung auf. Bin ich als Arbeitsloser plötzlich ein Mensch geworden, dem man drohen muss, damit er etwas macht? War ich nicht erst kürzlich noch für den Ablauf eines komplexen Produktionsablaufes verantwortlich? Und dabei an die Pünktlichkeit und das Verantwortungsbewusstsein auch meiner Mitarbeitenden gewöhnt. Sollte dies alles nicht mehr zählen? Anscheinend erwarten die verantwortlichen Stellen, dass die meisten Arbeitslosen unpünktlich und vergesslich sind. Sonst wären doch diese Sätze nicht fett und unübersehbar auf der Einladung gedruckt.
Mit mir warten etwa vierzig Arbeitslose auf den Beginn der Veranstaltung. Eine gedrückte Stimmung, keiner kennt den andern, man mustert sich verlegen, fragt nur, ob der Platz daneben noch frei sei … Präzise 13.30 Uhr beginnt die Veranstaltung. Begrüssung und so weiter. Da öffnet sich um 13.40 Uhr langsam die Türe. Ein Nachzügler tritt zaghaft ein, will etwas sagen. Der Vortragende lässt ihn nicht zu Wort kommen. Er weist ihm die Türt «Sie sind zu spät. Melden Sie sich bei Ihrem Berater!». Und als der Hinausgewiesene nicht sofort den Saal verlässt: «Gehen Sie! Melden Sie sich bei Ihrem Berater, er gibt Ihnen einen neuen Termin!». Langsam schliesst sich die Türe.
Für den Organisator ist ein unliebsamer Unterbruch beendet. Für den zu spät Gekommenen eine negative Erfahrung mehr. Für die Arbeitslosen, die das Schauspiel miterleben, eine Lektion. Sie wissen nun, was es geschlagen hat: Harte Sitten herrschen im RAV, wer nicht spurt, bekommt die Paragraphen sofort zu spüren. Die fetten Zeilen der Einladung stossen mir immer mehr auf. Ist das nun das Mass aller Dinge für einen bald sechzigjährigen, arbeitslosen Familienvater von vier Kindern, von denen zwei studieren und zwei die Schule besuchen? Warum begegnet man uns Arbeitslosen oft anders als andern Menschen? Etwa nur, damit der verwaltungstechnische Apparat besser und speditiver funktioniert? Auch wenn die Arbeitslosen dabei weniger gut funktionieren?